Somit sitzen wir am nächsten Morgen früh und mit Proviant versorgt im bis zum Rand vollgetankten Auto und starten in ein kleines Abenteuer nach
https://www.youtube.com/watch?v=K3D1aINV3Xs
Naja, ganz so weit fahren wir nicht, aber fast. Wir fahren die Interstate 10 bis Tallahassee und ab dann den Highway 319 hinunter an die Küste. Noch schöner hätte ich es gefunden, die gesamte Strecke über die 98 zu fahren, aber das wäre an einem Tag dann nicht zu schaffen gewesen, und an der 319 gibt es auch die eine oder andere Kleinigkeit zu entdecken. Die Gegend ist sehr waldreich, das sind schon die Ausläufer des Apalachicola National Forest, des größten zusammenhängenden Waldgebiets Floridas. Gelegentlich durchquert man kleine Ortschaften mit vielen zugewucherten und verlassenen Gebäuden, daß man eigentlich alle paar Kilometer anhalten könnte. Auch einen Autofriedhof gibt es hier, der sich heute, bei dem wolkenverhangenen Himmel aber nicht so schön fotografieren läßt. So sah die rostige Romantik beim letzten Mal aus:
An der Golfküste angekommen fällt mir auf, daß wir seit den Keys das Meer nicht mehr gesehen haben. Die Pelikane fliegen tief und die schönen alten Holzhäuser sehen von Irma teilweise recht mitgenommen aus. Die Forgotten Coast ist ein Teil Floridas, den ich besonders mag, auch wenn er streng genommen nicht besonders exotisch wirkt mit seinen feinen Sandstränden und den Kiefernwäldern. Aber die Warnschilder, die auf Schwarzbären hinweisen, sind nur ein Indiz, daß wir hier nicht an der Ostsee sind.
Kurz hinter Carabelle biegen wir ab auf die langgezogene 65, die den Apalachicola National Forest einmal der Länge nach durchschneidet. Vor uns und hinter uns kein weiteres Auto, wir sind ganz allein. Wie schnell man hier fahren darf muß man erraten, Schilder gibt es keine. Ich fahre etwas unter den vermuteten 55, da ab und zu ein kleines Hörnchen die Straße kreuzt und man ja auch immer mal mit einer Schildkröte rechnen muß. Oder etwas Größerem.
Die Fahrt zieht sich, neben mir schnarcht der Mister. Ich weiß nicht genau, woran ich erkennen soll, wann ich in den Wald abbiegen muß, ich weiß nur, wenn wir an einer mitten im Wald gelegenen Siedlung mit dem exotischen Namen Sumatra angekommen sind, sind wir zu weit gefahren. Es ist dann aber ganz einfach, ein großes Hinweisschild weist den Weg zum Wright Loop Trail. Der Wetterbericht hatte wie immer Recht, es ist inzwischen sonnig und sehr heiß. Wir werfen die drei Dollar Eintrittsgebühr für den State Park in den vorgesehenen Kasten, dann wandern wir los. Wir haben genügend zu trinken und auch etwas Verpflegung. Der Rundkurs entlang des Wright Lake ist insgesamt ca. 4 Meilen lang. Ob wir das alles abgehen werden, hängt davon ab, ob wir das, was wir suchen, bald oder erst später finden werden. Ich habe Beschreibungen anderer Wanderer gelesen, die den Weg allerdings, wie sich später herausstellen wird, andersherum gegangen sind, und weiß daher, daß wir eine Brücke finden müssen und dort die besten Chancen haben werden.
Mr.minolta findet den Weg langweilig. Viele Kiefern, trockener Untergrund. So etwas, wie ich es suche, kann hier nicht gedeihen, meint er. Andere Menschen haben es hier nun aber gesehen, und nicht nur einmal, argumentiere ich. Die Warnung vor Schwarzbären und die bärensicher verschlossenen Mülleimer am Parkplatz sorgen für Adrenalinzufuhr, und so wandern wir recht zügig, viel zügiger, als das sonst so meine Schildkrötenart ist, den gut erkennbaren Weg entlang, der durch den Wald mäandert, und unterhalten uns vor jeder Kurve des Weges laut.
Schließlich fällt das hügelige Land zu einem Wasserlauf, der den Wright Lake speist, ab. Als wir das sumpfige Bachufer erreichen, sehe ich das, was wohl von anderen Wanderern als „Brücke“ bezeichnet wurde. Ein ungefähr 10 Meter langer Holzbalken, gerade so breit wie mein Fuß, den man also nur in Seiltänzermanier überqueren kann. Ein Drahtseil als Handlauf gab es auch mal, das wurde aber aus seinen Halterungen gerissen und hängt nun durch ohne Halt zu bieten. Das Schlimmste, das passieren könnte, wäre, in den Matsch oder in den Bach zu fallen, an der tiefsten Stelle vielleicht einen Meter. Das sagt mir aber nur der Verstand. Die Höhenangst und das Wissen um meine eigene Ungeschicklichkeit bei wie auch immer gearteten Kletteraktionen beschert mir direkt schweißnasse Hände, als ich den langen Balken im Wald verschwinden sehe. Wir stehen ein bißchen unschlüssig da, wenn es nach mr.minolta gehen würde, wären wir ja schon lange umgekehrt. Aber so, wie ich die Berichte der einheimischen Hiker verstanden habe, muß es genau hier sein.
Wir gehen also weiter. Das heißt, einer von uns beiden schnürt munter voran und ist innerhalb von Sekunden auf der anderen Seite.
Ich schiebe mich im Schneckentempo vorwärts und fühle mich dabei wie Familie Traber beim Überqueren des Grand Canyon auf einem Hochseil. Während ich mich der Mitte des Balkens nähere, bekomme ich vom anderen Ufer die wohlmeinende Warnung zugerufen, ich solle übrigens nicht in die Bärenhaufen treten.
Wie jetzt?
Tatsächlich, da liegen sie, mehrere, mit roten Beeren durchsetzte Häufchen Schwarzbärenkot. Wäre ich nicht so damit beschäftigt, nicht vom Balken zu fallen, hätte ich vermutlich jetzt einen Lachkrampf von der Vorstellung, wie ein mißgelaunter Bär seinem Frust über lästige Wanderer freien Lauf läßt, in dem er die einzige Brücke weit und breit zielsicher zum Donnerbalken erklärt. Die Haufen, es sind mindestens drei, sind exakt in der Mitte des schmalen Balkens platziert, das muß man erstmal hinkriegen, ohne hinzugucken. Respekt!
Wohler fühlen wir uns jetzt nicht unbedingt, denn, auch auf die Gefahr hin, den Bären damit zu vermenschlichen, die Botschaft ist ja unmißverständlich: Mein Revier! Ich frage mich selbst, wie weit wir noch gehen wollen, als ich genau in dem Moment sehe, was ich gesucht habe:
Schlauchpflanzen!
Da stehen sie, eine ganze Gruppe, in der Nähe des Bachufers, leuchtend gelb und sogar noch mit einer verspäteten Blüte. Was ein Glück! Seit meiner letzten Seychellenreise, auf der ich mich in die Kannenpflanzen auf dem Morne Copolia verliebt habe, wollte ich die in Florida nur in ganz entlegenen Gebieten vorkommenden Carnivoren sehen. Die Aussichten sind weiter im Westen, an der Grenze zu Alabama, noch besser als hier und die Artenvielfalt ist größer, aber so weit wollten wir auf dieser Reise nicht fahren. So blieb als einzige Chance die Wanderung um den Wright Lake, und es hat sich gelohnt!
Die Pflanzen sind wunderschön, sehr groß, bestimmt einen halben Meter. Ich freue mich riesig und wir fotografieren sie von allen Seiten. Sarracenia flava, die Art, die wir hier gefunden haben, blüht eigentlich ab Ende März und im April, so daß wir jetzt schon spät dran sind und froh sein können, daß wir sie jetzt noch blühend vorgefunden haben und keine Versuche unternehmen, noch mehr Pflanzen zu finden.
Da wir nicht sicher sind, wie viel von dem Rundwanderweg wir bereits gemacht haben, gehen wir sicherheitshalber den Teil, den wir gekommen sind, zurück. Was sich später als Fehler erweist, auf einer Wandertafel am Ausgangspunkt sehen wir, daß das Reststück wesentlich kürzer gewesen wäre. Vor allem muß ich so auch noch einmal über den Balken zurück, aber beim zweiten Mal geht es schon besser.
Dann geht es die knapp 300 Kilometer zurück nach Lake City. Wir werfen einen letzten Blick auf den recht aufgewühlten Golf von Mexico, dann geht es wieder die 319 hinauf durch die kleinen Ortschaften und endlosen Wälder nach Tallahassee und über die Interstate zurück nach Lake City. 600 Kilometer an einem Tag für eine Kannenpflanze. Ok, zwei, denn bei der Rückfahrt haben wir am Straßenrand noch ein einsames Exemplar gesehen, aber dennoch, ein bißchen verrückt ist das schon.
Zurück im Motel gibt es heute in der Microwelle selbst gekochtes Fertigessen und Salat. Die Publix-Salate sind nicht ganz günstig, aber dafür super lecker und die Auswahl ist groß. Danach sind wir fertig für den Tag, so daß mehr als im Klappstuhl sitzen heute nicht mehr drin ist.
Das freut die Zimmernachbarinnen aus Virginia, die uns schon vermißt haben. Sie sind auf Verwandtenbesuch hier und bleiben mehrere Tage, damit es sich lohnt. Daß wir genau die richtige Entscheidung getroffen haben, heute gen Westen zu flüchten, erfahren wir auch, in Lake City hat es den ganzen Tag geregnet und der Frust ist bei allen groß. Es sei schrecklich langweilig, hier den ganzen Tag im Motel zu sitzen, erzählen sie uns. Sie hätten schon befürchtet, wir seien abgereist, da unser Auto schon seit dem frühen Morgen nicht mehr auf dem Parkplatz stand, mit uns könne man sich ja wenigstens unterhalten.
Unterwegs waren sie aber wohl auch, neben der Zimmertür eine Tüte aus der ein ziemlich großer Kaktus herausguckt, verdächtigerweise ohne Topf. Wenn sie den irgendwo ausgegraben haben, können sie froh sein, nicht erwischt worden zu sein, hier wo jeder Meter Wald irgendjemandem gehört.
Die beiden trinken fleißig Bier und wir holen zur Feier des Tages die nackte Schildkröte heraus, die, wie wir in wiederholten Experimenten an verregneten Abenden im Schildkrötenpalast herausgefunden haben, am allerbesten mit Hawaiian Punch White Water Wave schmeckt, was zusammen eine Art Pina Colada ergibt. Die Kannenpflanzen müssen begossen werden und einem geselligen Abend auf dem Motelflur steht auch nichts im Wege.
Ich habe immer noch Probleme, die Amerikaner zu verstehen, vor allem, wenn ich spontan angesprochen werde. Entweder mein Gehör ist derartig auf britisches Englisch fixiert oder die nuscheln, ich weiß es nicht, finde es aber ziemlich blöd, daß ich mich auch nach vier Wochen noch nicht richtig eingehört habe. Die Lösung heißt Naked Turtle Rum mit Hawaiian Punch White Water Wave! Zwei Gläser und ich verstehe jedes Wort, wahre Hexerei! Noch ein Glas, und ich spreche Mandarin-Chinesisch. Wie es so ist in Virginia, möchte ich wissen. Ich stelle mir Virginia besonders schön vor, aber ehrlich gesagt stammt alles, was ich darüber weiß, aus "Country Roads".
Sie leben auf dem Land, haben Pferde und Hunde und Katzen und sind hier, um einen erkrankten Verwandten zu besuchen. 800 Meilen sind sie gefahren, mit diesem riesigen Pickup, auf den wir jetzt gucken, wärend wir reden, und gegen den unser Toyota wie ein Einkaufswägelchen aussieht. Was das wohl an Benzin kostet! Die Dimensionen dieses Landes und die oftmals weit verstreut lebenden Familien sind auch eine Belastung, das hören wir nicht zum ersten Mal. Gerade vor kurzem erzählte uns eine Mitarbeiterin des Motels, daß sie ihre Heiratspläne aufschieben mußte, da das Beschaffen der notwendigen Papiere eine Reise nach Michigan erforderlich machte, die die gesamten Ersparnisse aufgebraucht habe. Von einer Reise nach Europa können die meisten da nur träumen, und das tun sie auch. Deutschland kommt in diesen Träumen sogar gar nicht so selten vor, und meist geht es um die Weihnachtsmärkte. Das sei doch „a thing“ in Germany!
Der Abend endet mit dem Austausch von Adressen, gemeinsamen Fotos und dem Versprechen, sich Weihnachtskarten zu senden. Wir nehmen uns vor, das auch wirklich zu tun und bis zum Jahresende nicht zu vergessen. Ein bißchen deutsche Weihnachtsgemütlichkeit soll in Virginia Freude bereiten, und wenn es nur per Weihnachtskarte ist.